Statt Dienstag gibt es diesmal erst Mittwoch wieder etwas zu Essen hier im Blog. Damit Euch bis dahin nicht langweilig wird, gibt’s heute mal ein bisschen „Food for Thought“ im Gewand einer Rezension…
Denn nicht nur der Magen, auch der Kopf braucht Futter. In den letzten Wochen habe ich mein Hirn mit 2.000 e-Book-Seiten zum 30jährigen Krieg gefüttert, die in mir immer noch nachhallen. Deswegen re-poste ich hier meine Rezension, die ich in meiner Facebook-Buchgruppe „Bookaholics“ gepostet habe. (Ihr sagt mir ja immer, Ihr wollt mehr dazu erfahren, was ich so lese…!)
Rezension zu Peter Englund „Verwüstung – Eine Geschichte des 30jährigen Krieges“ (Rowohlt, ab 14,99€ (eBook))
Die Szenerie klingt vertraut: Gruppierungen verschiedener Konfessionen der gleichen Religion stürzen eine ganze Region in jahrzehnte dauernde Konflikte und Bürgerkriege. Die Zivilbevölkerung leidet unter fremden und eigenen Mächten gleichermaßen. Der Terror und die Brutalität sind für viele neu und bisher unvorstellbar. Ganze Dörfer und Städte begeben sich auf die Flucht in eine Region, in der eine völlig andere Religion ausgeübt, Toleranz praktiziert wird und Fremde willkommen sind. Währendessen zieht der Krieg immer weitere Kreise, bilden sich unvorhergesehene Allianzen, werden fremde Konflikte auf dem Territorium ausgetragen, tritt die Religion als Ausgangskonflikt längst in den Hintergrund. Was bleibt, ist ein völlig zerstörter, ausgebluteter, entvölkerter Kontinent, der noch Jahrhunderte später zahlreiche Spuren des großen Krieges aufweisen wird.
Nein, wir reden nicht vom Nahen Osten und Flüchtlingen, die sich in Europa Frieden erhoffen. Wir sprechen vom 17. Jahrhundert und dem ersten Krieg, der apokalyptische Ausmaße annahm, dem 30jährigen Krieg.
Peter Englund, schwedischer Autor und Mitglied der Svenska Akademien, entwirft auf rund 900 Seiten (TB-Ausgabe) nicht nur ein Bild, sondern ein Wandgemälde der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Europa und dem verheerendsten Krieg, den der Kontinent bis dahin gesehen hat. Das Spannende für alle, die schon ein bisschen über die Epoche Bescheid wissen und einiges über Wallenstein, Tilly, Gustav Adolf & Co. gelesen haben, ist die durchweg schwedische Perspektive, aus der Englund schreibt. Die bekannten Namen des Krieges sind hier nur Nebenpersonen. Stattdessen beschreibt Englund unglaublich detailreich, warum sich überhaupt Schweden, als damals wenig entwickeltes und bevölkerungsarmes Land in den Krieg einmischte, weshalb Gustav Adolf so siegreich war, wer ihn beerbte, nachdem dieser gefallen war und warum es an den Schweden lag, dass der Krieg nicht schon viel früher beendet werden konnte.
Wenn auch die vielen Details teilweise ermüden (Schlachten und Feldzüge werden mitunter äußerst ausführlich beschrieben), ist es ein Genuss, wie Englund das Militärische mit dem Alltagsleben der Menschen im 17. Jahrhundert verquickt. Nur einige der Themen, die er in fast jedem Kapitel einschiebt:
– Wie sahen Kleidung & Uniformen der Zeit aus? (Heere in dieser Zeit waren keinesfalls einheitlich gekleidet, wie das heute der Fall ist)
– Wie verlief eine Pesterkrankung und welche Arzneien, Behandlungen gab es?
– Wie konnten Heerführer, die auf dem ganzen Kontinent verstreut waren, überhaupt miteinander kommunizieren? (Es gab noch keine Post!)
– Wie machten Staaten das Geld locker, um den Krieg zu finanzieren, die Legionäre zu bezahlen? (Der Kaiser hatte die Fugger. Aber wie organisierten sich die Protestanten?)
– Wie wurde der unendliche Bedarf an Soldaten gedeckt, wie wurden sie rekrutiert? (Erstmals kämpften Söldner und Legionäre in einem Krieg. Dummerweise fühlten sie sich nur dem verpflichtet, der gerade zahlen konnte…)
– Welche Folgen hatte der Krieg für die Zivilbevölkerung? (Manche Landstriche verblieben ausgebrannt und entvölkert. Insgesamt dezimierte der Krieg die Bevölkerung um ein Drittel. In manchen Regionen allerdings um 70%)
– Wie reiste man im 17. Jahrhundert?
– Wie konnten sich Soldaten in einer Schlacht orientieren, wenn alles voller Pulverdampf war und der Gegner nicht durch andere Uniformen zu erkennen war?
– Wie sah das Welt- und Naturbild jener Zeit aus?
– Welchen Einfluss hatten die Zerstörung ganzer Landstriche, die Hungersnot (es gab sogar Fälle von Kannibalismus!), das herrschende Chaos, das Machtvakuum etc. auf Gesellschaft, Religion, Kunst und Literatur?
– Wie wurden die Menschen aufgenommen, die in das friedliche und tolerante Osmanische Reich flohen?
– Und warum war mit dem westfälischen Frieden 1648 noch lange nicht alles wieder friedlich?
Es sollte dreihundert Jahre dauern, bis wieder ein Krieg den Kontinent in einen vergleichbaren Zustand versetzen sollte. Bis dahin blieb der 30jährige Krieg der große Terror, an dem Europa noch Jahrzehnte nach dem westfälischen Frieden zu leiden hatte. Die Bevölkerung erholte sich nur langsam. Das Vertrauen in die neue Konfession war erschüttert. Die Brutalität und den Sadismus, der erstmals in dieser Breite ausgelebt wurden, hatten nachhaltig Einfluss auf die Art, wie auf Mitmenschen, auf Autoritäten, namentlich auf Adlinge geblickt wurde.
Selbst die strengen Barock-Gärten entstanden aus dem Wunsch, das Chaos hinter sich zu lassen und strenge Ordnungen wieder einzuführen.
Und ob Ihr heute in einer mehrheitlich katholischen oder protestantischen Stadt lebt, hat nicht zuletzt damit zu tun, wie die Regionen im westfälischen Frieden aufgeteilt wurden. Die Gothische Bibel aus dem 6. Jahrhundert, die ich im schwedischen Uppsala bewundern durfte, sowie viele weitere Kunstschätze in schwedischen Museen wurden in jenem Krieg geraubt. Kaum eine Stadt ohne Gustav-Adolf- oder Wallensteinstraße…
Geschichte ist lebendig und beeinflusst uns bis heute. Ich finde es schade, dass dieser Krieg, der Europa so nachhaltig beeinflusst hat zumindest in meiner Schulzeit kaum eine Rolle gespielt hat.
Dabei kennt Ihr sicher auch das traurige Lied:
Maikäfer, flieg.
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer, flieg.
(Ein grandioses Dossier zum Ursprung des Liedes hat die FAZ veröffentlicht!)
Von dieser Verballhornung des Schlafliedes „Schlaf, Kindchen, schlaf“ gibt es übrigens noch eine weitere Version:
„Bet, Kindchen, bet! Morgen kommt der Schwed’…“
Peter Englunds Sachbuch ist ein umfangreiches und hoch spannendes Portrait dieser Zeit, das mit seiner schwedischen Perspektive einen interessanten Blickwinkel liefert für alle, die sich für das Leben und den Krieg im 17. Jhr. interessieren.
Wer sich noch nie mit dem 30jährigen Krieg befasst hat, dem empfehle ich das sehr gute GEO Epoche und das SPIEGEL Geschichte zum Thema. Auch empfehlenswert zum Einstieg der Klassiker „Der 30jährige Krieg“ von C V Wedgwood. Texte aus der Zeit sind natürlich Grimmelshausens Simplicissimus und das „Tagebuch eines Söldners“ (Peter Hagendorf). Neuzeitlicher sind Golo Manns „Wallenstein“ oder auch Bert Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“… (Alle auch in dieser Liste)
Ich hoffe, ich konnte Euch ein bisschen Lust machen auf anspruchsvolle Sachbuchlektüre. In mir hallt das Buch von Peter Englund jedenfalls noch lange nach…
Und wer wissen will, was ich als nächstes lese, guckt einfach bei mir im Blog https://germanabendbrot.wordpress.com/ auf der rechten Navigationsleiste unter „Auf’m Nachttisch“
PS: Am Mittwoch geht’s weiter mit Essen und einem Gericht zur Aktion „Wir retten, was zu retten ist!“
Danke für diese ausführliche Vorstellung. Sicher ist dieses Buch momentan nicht das Richtige für mich, dafür braucht der Kopf doch gewisse Freiräume.
Und selbst dann- für Sachbücher konnte ich mich noch nie so wirklich begeistern, ein gut recherchierter Roman wird bei mir immer gewinnen gegen das Sachbuch.
Geht mir ähnlich. Aber ab und zu ist das sehr interessant zu lesen. Angefixt würde ich mit „1812“ zu Napoleons katastrophalem Russlandfeldzug…
Ich muss gestehen, dass ich es eigentlich so gar nicht mit Geschichte habe, aber deine Rezension hat mich sehr neugierig gemacht! Mal sehen, was die Bücherhalle dazu sagt. 😉
Für „Einsteiger“, die sich nicht soooo dolle mit der Geschichte auskennen, sind die GEO Epoche-Hefte wirklich eine Empfehlung. Und natürlich das Dossier zum Maikäfer-Lied, das ich verlinkt habe. Du musst ja nicht gleich einen 900 Seiten-Wälzer lesen 😉
Peter Englunds „Verwüstung“ ist in der Tat das Beste, was es zusammenfassend zum 30jK gibt. Ansonsten kann ich noch den Begleitband zu einer Ausstellung, die demnächst in Emden zu sehen sein wird, empfehlen: „1636 – ihre letzte Schlacht“, geschrieben von Sabine Eickhoff, Anja Grothe und Bettina Jungklaus zu einem Massengrab mit gefallenen Soldaten aus der Schlacht von Wittstock 1632.
Ansonsten gibt es die Ausstellung „Krieg – eine archäologische Spurensuche“ in Halle/Saale, die sehr ausführlich die Schlacht von Lützen 1632 mit den fürchterlichen Auswirkungen zeigt.
Danke vielmals! Von der Ausstellung in Halle hatte ich gelesen. Das Thema fasziniert mich einfach…
Vielleicht hast du Zeit, an einem 1. Sonntag im Monat um 15 Uhr zur Kuratorenführung nach Halle zu kommen?
Das versuche ich gerne!